Mittwoch, 13. September 2017

Sichtschutz als Selbstschutz

Ich hatte es wirklich in Betracht gezogen. Weil, als ich nach zwei Wochen Urlaub nach Hause kam, lagen da die allseits bekannten Briefkasten-Häufchen: ein recht ansehnlicher Stapel Sekretariat, ein gigantischer Berg Werbeblättchen, eine Ansichtskarte und zwei SCHAUFENSTER. Und weil der Stapel Sekretariat ein hübsches Sümmchen an Arbeit versprach, wollte ich. Zumal ich beim flüchtigen Durchblättern durch die Überschrift "Balkonien ist kein rechtsfreier Raum" darin bestärkt wurde, nichts Wesentliches zu verpassen. Ob auf dem Balkon oder im Garten alles erlaubt sei, was gefalle, ohne Rücksicht auf andere? Selbstredend nicht! Und dann die Lettern "Grillen: Wenn der Rauch für Zunder sorgt" und "Ruhestörung: Wenn die Nacht zum Tag wird": Hallo, das wissen wir jetzt aber!

Ich fühlte mich so was von ermutigt, meine angelaufenen SCHAUFENSTER ungelesen wegzuschmeißen, blieb dann aber an den Worten "Sonnenbaden: Wenn wenig Stoff viel Ärger macht" hängen: Gegen ein vollkommen geruchs- wie geräuschneutrales Sonnenbad auf dem Balkon oder der Terrasse könne aber wohl keiner etwas einzuwenden haben? Solange ich alle Körperteile bedecke, an denen andere Anstoß nehmen könnten, stehe dem nichts entgegen, schränkte der Rechtsanwalt ein. Wer hingegen eine nahtlose Bräune bevorzuge, solle sie sich entweder an besser geschützten Orten als dem Balkon oder Garten holen oder einen entsprechenden Sichtschutz anbringen. Andernfalls könnte - zumindest bei schamhaften Nachbarn - schnell ein Bußgeld drohen. Ich schließe aus diesen Zeilen, dass es diese Fälle schon gegeben hat. Und meine jetzt nicht die Personen, die sich in ihrem Garten oben ohne sonnen. Sondern die Nachbarn, die sich daran stören. Zu meiner Zeit (als ich eine junge Frau war) war es vollkommen in Ordnung, sich im Freibad auf der Decke oben ohne zu sonnen. Das ist heute undenkbar! Stattdessen muss heute mein Nachbar damit einverstanden sein, dass ich mich auf meiner Terrasse oben ohne sonne? Auf der anderen Seite sehe ich im Straßenbild immer häufiger Mitmenschen von unfasslicher Leibesfülle mit so was von drallen Popos in knatschengen, hauchdünnen Leggings - ohne entsprechenden Sichtschutz für mich, wie der Anwalt sich ausdrückt. Was für eine verkehrte Welt - für mich!

Und wo ich gerade beim Sichtschutz bin. Las ich doch neulich in meinem SCHAUFENSTER "Jeder Dritte wäscht sich nicht die Hände": Bei der Handhygiene scheine es hierzulande Nachhilfebedarf zu geben. Das zeige eine repräsentative forsa-Umfrage. Ein weiteres Ergebnis der Umfrage sei, dass sich besonders viele Menschen vor bestimmten Gegenständen im öffentlichen Raum ekeln. Aus hygienischen Gründen (aus welchen auch sonst?) ist 87 Prozent der  Befragten die Berührung mit öffentlichen Toiletten besonders unangenehm. Knapp jeder Zweite fasst Haltegriffe in Bussen und Bahnen sowie Handläufe von Rolltreppen und Treppengeländer ungern an. Auf der Ekel-Skala folgen Griffe an Einkaufswagen mit 37 Prozent vor Tastaturen an Geldautomaten mit 28 Prozent. Auffällig sei, dass Frauen sich durchgängig häufiger ekeln als Männer.

Ja, und so möchte ich als Frau der Ekel-Skala meinen persönlichen Favoriten hinzufügen. Früher bot mir mein Lieblingsdiscounter Erdbeeren und Kirschen abgepackt an. Heutzutage liegen die Kirschen lose und jeder darf sich die gewünschte Menge selbst mit einem Schäufelchen portionieren. Erst neulich habe ich mir wieder zwei Schäufelchen Kirschen gegönnt. Und was macht die Vollpfostin neben mir? Sie drückt auf den Kirschen herum, bevor sie dann mit der Hand (!) Kirschen in ihre Tüte packt, wohlweislich nicht die, die sie vorher bearbeitet hat. Ich habe mich so was von nachgerade geekelt. Zuhause habe ich meine Kirschen so lange unter kochend heißes Wasser gehalten, bis sie verbrannt waren. Hallo, selbst wenn das Obst einwandfrei ist, wenn aber jeder Tuppes seinen schmutzigen Fingernagel in die Schale bohrt, um den Reifegrad zu prüfen - nachgerade ekelig! ("nachgerade"  - ein Wortakrobat meines SCHAUFENSTERS hat mir mal wieder ein tolles Wort zur Adoption geliefert!)

Wo wir gerade bei Hygiene sind. Neulich las es sich in meinem SCHAUFENSTER folgendermaßen: "Reisetipps für gute Mundhygiene. Zahnbürste und Zahnpasta gehören so selbstverständlich ins Reisegepäck wie Geldbörse, Scheckkarte und Personalausweis. Doch reichen Zahnbürste und Zahnpasta für eine gute Mundhygiene unterwegs tatsächlich aus?" Und schon stand mir der Angstschweiß auf der Stirn. Auf Reisen könnten sich die Bedingungen für die Ausbreitung von Bakterien stark von denen im Alltag zu Hause unterscheiden. So fördere feuchtwarmes Klima die Ausbreitung von Keimen. Ein Tipp zur Verhinderung von Infektionen an Zahnfleisch und im Mund sei, die Zahnbürste nicht mit anderen zu teilen, um die Übertragung von Infektionskrankheiten zu vermeiden. Und nachgerade spüre ich die Mundfäule. Auf unserer letzten Fahrradtour stellte ich nämlich am ersten Abend fest, dass ich meine Zahnbürste vergessen hatte, und hab deshalb die Bürste meines Traummannes, ich darf gar nicht drüber nachdenken!
Ich hab mir zwar am nächsten Tag eine eigene gekauft, aber weiter hieß es in dem Artikel: "Zahnbürste nach dem Putzen an einem offenen Ort stehen lassen, damit sie rasch trocknet, denn auf feuchten Bürsten breiten sich Keime schneller aus." Und wieder ekele ich mich nachgerade, weil, hallo, auf unseren Fahrradtouren radeln wir jeden Tag weiter. Ich mag gar nicht daran denken, weil neulich hatte mein Traummann von wegen effizienter Platzausnutzung die Zahnbürsten kurzerhand in seine Turnschuhe gesteckt und dann in eine Plastiktüte.

Ich hätte vielleicht doch die beiden während des Urlaubs angesammelten SCHAUFENSTER ungelesen wegschmeißen sollen, rein aus Selbstschutz. Dann könnte ich mich jetzt weiterhin ohne Unrechtsbewusstsein auf meiner Terrasse oben ohne sonnen und wäre nicht total auf meine Mundschleimhaut fixiert.