Ich hatte es wirklich in Betracht gezogen. Weil, als ich
nach zwei Wochen Urlaub nach Hause kam, lagen da die allseits bekannten
Briefkasten-Häufchen: ein recht ansehnlicher Stapel Sekretariat, ein gigantischer
Berg Werbeblättchen, eine Ansichtskarte und zwei SCHAUFENSTER. Und weil der
Stapel Sekretariat ein hübsches Sümmchen an Arbeit versprach, wollte ich. Zumal
ich beim flüchtigen Durchblättern durch die Überschrift "Balkonien ist
kein rechtsfreier Raum" darin bestärkt wurde, nichts Wesentliches zu
verpassen. Ob auf dem Balkon oder im Garten alles erlaubt sei, was gefalle,
ohne Rücksicht auf andere? Selbstredend nicht! Und dann die Lettern
"Grillen: Wenn der Rauch für Zunder sorgt" und "Ruhestörung:
Wenn die Nacht zum Tag wird": Hallo, das wissen wir jetzt aber!
Ich fühlte mich so was von ermutigt, meine angelaufenen
SCHAUFENSTER ungelesen wegzuschmeißen, blieb dann aber an den Worten
"Sonnenbaden: Wenn wenig Stoff viel Ärger macht" hängen: Gegen ein
vollkommen geruchs- wie geräuschneutrales Sonnenbad auf dem Balkon oder der
Terrasse könne aber wohl keiner etwas einzuwenden haben? Solange ich alle
Körperteile bedecke, an denen andere Anstoß nehmen könnten, stehe dem nichts
entgegen, schränkte der Rechtsanwalt ein. Wer hingegen eine nahtlose Bräune bevorzuge,
solle sie sich entweder an besser geschützten Orten als dem Balkon oder Garten
holen oder einen entsprechenden Sichtschutz anbringen. Andernfalls könnte -
zumindest bei schamhaften Nachbarn - schnell ein Bußgeld drohen. Ich schließe aus
diesen Zeilen, dass es diese Fälle schon gegeben hat. Und meine jetzt nicht die
Personen, die sich in ihrem Garten oben ohne sonnen. Sondern die Nachbarn, die
sich daran stören. Zu meiner Zeit (als ich eine junge Frau war) war es vollkommen
in Ordnung, sich im Freibad auf der Decke oben ohne zu sonnen. Das ist heute
undenkbar! Stattdessen muss heute mein Nachbar damit einverstanden sein, dass
ich mich auf meiner Terrasse oben ohne sonne? Auf der anderen Seite sehe ich im
Straßenbild immer häufiger Mitmenschen von unfasslicher Leibesfülle mit so was
von drallen Popos in knatschengen, hauchdünnen Leggings - ohne entsprechenden
Sichtschutz für mich, wie der Anwalt sich ausdrückt. Was für eine verkehrte
Welt - für mich!
Und wo ich gerade beim Sichtschutz bin. Las ich doch neulich
in meinem SCHAUFENSTER "Jeder Dritte wäscht sich nicht die Hände":
Bei der Handhygiene scheine es hierzulande Nachhilfebedarf zu geben. Das zeige
eine repräsentative forsa-Umfrage. Ein weiteres Ergebnis der Umfrage sei, dass
sich besonders viele Menschen vor bestimmten Gegenständen im öffentlichen Raum
ekeln. Aus hygienischen Gründen (aus welchen auch sonst?) ist 87 Prozent
der Befragten die Berührung mit
öffentlichen Toiletten besonders unangenehm. Knapp jeder Zweite fasst
Haltegriffe in Bussen und Bahnen sowie Handläufe von Rolltreppen und
Treppengeländer ungern an. Auf der Ekel-Skala folgen Griffe an Einkaufswagen
mit 37 Prozent vor Tastaturen an Geldautomaten mit 28 Prozent. Auffällig sei,
dass Frauen sich durchgängig häufiger ekeln als Männer.
Ja, und so möchte ich als Frau der Ekel-Skala meinen
persönlichen Favoriten hinzufügen. Früher bot mir mein Lieblingsdiscounter
Erdbeeren und Kirschen abgepackt an. Heutzutage liegen die Kirschen lose und
jeder darf sich die gewünschte Menge selbst mit einem Schäufelchen portionieren.
Erst neulich habe ich mir wieder zwei Schäufelchen Kirschen gegönnt. Und was
macht die Vollpfostin neben mir? Sie drückt auf den Kirschen herum, bevor sie
dann mit der Hand (!) Kirschen in ihre Tüte packt, wohlweislich nicht die, die
sie vorher bearbeitet hat. Ich habe mich so was von nachgerade geekelt. Zuhause
habe ich meine Kirschen so lange unter kochend heißes Wasser gehalten, bis sie
verbrannt waren. Hallo, selbst wenn das Obst einwandfrei ist, wenn aber jeder
Tuppes seinen schmutzigen Fingernagel in die Schale bohrt, um den Reifegrad zu
prüfen - nachgerade ekelig! ("nachgerade" - ein Wortakrobat meines SCHAUFENSTERS hat
mir mal wieder ein tolles Wort zur Adoption geliefert!)
Wo wir gerade bei Hygiene sind. Neulich las es sich in
meinem SCHAUFENSTER folgendermaßen: "Reisetipps für gute Mundhygiene.
Zahnbürste und Zahnpasta gehören so selbstverständlich ins Reisegepäck wie
Geldbörse, Scheckkarte und Personalausweis. Doch reichen Zahnbürste und
Zahnpasta für eine gute Mundhygiene unterwegs tatsächlich aus?" Und schon
stand mir der Angstschweiß auf der Stirn. Auf Reisen könnten sich die
Bedingungen für die Ausbreitung von Bakterien stark von denen im Alltag zu
Hause unterscheiden. So fördere feuchtwarmes Klima die Ausbreitung von Keimen. Ein
Tipp zur Verhinderung von Infektionen an Zahnfleisch und im Mund sei, die
Zahnbürste nicht mit anderen zu teilen, um die Übertragung von
Infektionskrankheiten zu vermeiden. Und nachgerade spüre ich die Mundfäule. Auf
unserer letzten Fahrradtour stellte ich nämlich am ersten Abend fest, dass ich
meine Zahnbürste vergessen hatte, und hab deshalb die Bürste meines Traummannes,
ich darf gar nicht drüber nachdenken!
Ich hab mir zwar am nächsten Tag eine eigene gekauft, aber
weiter hieß es in dem Artikel: "Zahnbürste nach dem Putzen an einem
offenen Ort stehen lassen, damit sie rasch trocknet, denn auf feuchten Bürsten
breiten sich Keime schneller aus." Und wieder ekele ich mich nachgerade,
weil, hallo, auf unseren Fahrradtouren radeln wir jeden Tag weiter. Ich mag gar
nicht daran denken, weil neulich hatte mein Traummann von wegen effizienter
Platzausnutzung die Zahnbürsten kurzerhand in seine Turnschuhe gesteckt und
dann in eine Plastiktüte.
Ich hätte vielleicht doch die beiden während des Urlaubs
angesammelten SCHAUFENSTER ungelesen wegschmeißen sollen, rein aus
Selbstschutz. Dann könnte ich mich jetzt weiterhin ohne Unrechtsbewusstsein auf
meiner Terrasse oben ohne sonnen und wäre nicht total auf meine Mundschleimhaut
fixiert.