Was mir aufgefallen ist – ich hab dir schon lange nichts mehr von meinen Stunden auf meiner Verkehrsinsel im Auerberg erzählt. Ich habe da ja auch noch mal aufgesattelt und in eine Teleskopleiter investiert. Holla, die Waldfee. Das hat sich echt gelohnt: Da sehen die von Norden kommenden Autofahrer mich schon auf der Höhe von Hersel und von Süden her schon am Bertha-von-Suttner-Platz. Ganz andere Reichweite, so ein Plakat auf einer Teleskopleiter! Ich erwähnte ja schon, dass mein Traummann mittlerweile Rentner ist, und wir da halt auch schauen müssen, wie wir finanziell über die Runden kommen. Ich sagte dir ja bereits, dass VIP zu sein nicht gleichbedeutend mit Reichtum zu setzen ist. Jedenfalls haben wir uns in Anbetracht des Themas fehlender Wohnraum und hohe Mieten dazu entschieden. Mein Göttergatte hat sich da wirklich viel Mühe gegeben: gereinigt, alles in Weiß gehalten, damit es freundlich und vor allem großzügig wirkt. Ich sag mal so, besser als nichts, zumindest für den Übergang. Mein Traummann hat sie so was von adrett hergerichtet. Da kannst du fein drin schlafen. Okay, wenn du lange Beine hast, musst du mit angezogenen Beinen. Was man ja aber sowieso macht, in Embryostellung schlafen. Dafür ist die Luft aber so was von frisch. Genau, wir haben uns entschieden, die beiden Lichtschächte in unserem Haus zu vermieten. Und dafür werbe ich auf meiner Verkehrsinsel im Auerberg.
Und wenn ich nicht auf der Teleskopleiter stehe, was ja schon wegen der Höhe in Kombination mit Wind und Wetter recht anspruchsvoll ist, habe ich ein gigantisch neues Projekt in Angriff genommen. So was von eine Herausforderung für mich, kann ich da nur sagen. Neulich rauschte eine Münze durch – wie vor uralten Zeiten - und ich habe wie vor Urzeiten selbige am Metall gerieben und schon klappte es. Ich weiß nicht, wie alt du bist. Ich hatte jedenfalls, als ich die Münze am Metall rieb, so was von ein Déjà-vu. Das kannst du dir heutzutage überhaupt nicht mehr vorstellen – und solltest du auch nicht, sonst kriegst du nämlich so was von Herpes. Schon wenn du die Tür geöffnet hast, schlug dir ein Gestankgemisch aus abgestandener Luft, Urin und Pupsen entgegen. Aber du warst froh, wenn du die Tür öffnen durftest, denn das hieß, du bist dran. Manchmal gefühlt nach unendlicher Wartezeit. Was sich da auch immer an Aggression vor der Tür in der Warteschlange aufstaute. Du machst dir keine Vorstellung. Vom Geklopfe an der Scheibe, „Schreib doch gefälligst einen Brief“ oder „Ich hab’s eilig“ bis hin zu „Ich komm dir gleich rein, du Blödmann“. Damals gab es das Wort Passiv-aggressives Verhalten noch gar nicht. Du weißt, was ich damit meine? Hier Internet: „bedeutet, dass man negative Gefühle oder Ärger nicht direkt, sondern auf indirekte und oft versteckte Weise ausdrückt. Statt offener Konfrontation vermeiden Personen mit passiv-aggressivem Verhalten Konflikte und zeigen ihren Widerstand oder ihre Ablehnung auf subtile Art und Weise.“ Da war nichts mit subtil oder so, wenn du Pech hattest, haben sie dich aus der Zelle geschmissen. Jetzt denkst du, wie genau habe ich Pech, wenn ich aus der Zelle, aus dem Gefängnis geworfen werde. Ich meine aber nicht diese Zelle, sondern die Telefonzelle, den öffentlichen Münzfernsprecher. Bei uns waren die gelb. In England rot. Schau dir doch einfach mal Bilder im Internet an.
Was ich aber eigentlich erzählen möchte, wo ich eigentlich hinkommen will. Wenn du dann endlich an der Reihe warst, du also in der Zelle standest und die Tür hinter dir geschlossen hattest, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder du kanntest die Telefonnummer, die du anwählen wolltest, oder du musstest in dem dort ausliegenden dicken Telefonbuch nachschlagen. Und falls du die Nummer suchen musstest, gab es wieder zwei Möglichkeiten. Entweder du fandest die gewünschte Nummer im dicken gelben Buch oder genau die Seite war rausgerissen und du verließest unverrichteter Dinge die Zelle. Und hattest spontan viele Freunde, weil es bei dir nur so kurz gedauert hatte. Hattest du aber die Nummer und wolltest jetzt wählen, musstest du notgedrungen den Hörer abnehmen, in deine Hand nehmen und Geldstücke (Geldstücke, die du im Vorfeld fein gesammelt hattest) in den Schlitz werfen. Du hieltest den Hörer ganz nah an dein Ohr und an deinen Mund! Und denk ja nicht, dass da irgendeiner an Desinfektion gedacht hätte. Dass da irgendeiner mit einem Tüchelchen oder so. Und dann hast du gewählt und dich gefreut, ich sage nur Drehscheibe. Du hast dich gefreut, wenn die Nummer nicht unendlich viele Neunen hatte. Und während du wartetest, dass jemand abnimmt, hast du alles gerochen, was du nicht riechen wolltest. Stell dir bitte vor, wie viele Menschen, und vor allem wer, mit welcher Mundhygiene da schon vor dir reingesprochen hatte, reingespuckt hatte, in der Nase gepopelt hatte und den Popel ... Soll ich weiter machen? Oder sagst du, du hast eine wage Vorstellung? Und möchtest auch, dass die Vorstellung wirklich nur wage bleibt. Und endlich ein Hallo auf der anderen Seite, aber sei sicher, Tiefenentspannung ist jetzt trotzdem nicht angesagt. Weil, während du telefonierst, musst du immer wieder nachladen und hörst die Münzen nur so durchrattern. Und dann gibt es Geldstücke, die rauschen einfach nur durch. Die reibst du während des Gesprächs am Metall und versuchst es –meist mit Erfolg – noch mal. Du glaubst, du hast genügend Münzen gehortet, hast du aber nicht. Und gerade hast du die letzte Münze in den Schlitz gesteckt, da sagt dir die andere Seite, dass die Liebe zu dir jetzt auch nicht mehr die ist, die sie mal war, und du hörst nur noch das Freizeichen. Und du hängst den Hörer ein, öffnest die Glastür und wirst mit einem aggressiven „Na endlich“ begrüßt.
Wo ich dir ja eben erzählt hatte, dass die Warteschlange vor solch einem Telefonhäuschen meist spannungsgeladen, dir nicht eben wohlgesonnen war, weil du aus ihrer Sicht immer zu lange telefoniert hast. Es gab eine einzige Ausnahme: Früher, wenn du durch die Tür warst, warst du ja tatsächlich weg. Nicht wie heute, Handy und so. Und dann kamst du irgendwann mit deiner Ente (ein Auto!) in Südfrankreich auf dem Campingplatz an und stelltest dich in die Warteschlange vor der einzigen Telefonzelle auf dem Campingplatz. Die Stimmung war immer gut und ausgelassen. Weil erstens hatte es dein Gefährt bis hierhin geschafft. Und zweitens wusstest du, dass jeder vor dir in der Schlange nur folgenden Satz sagt: „Wir sind gut angekommen.“