Diese Kurzgeschichte wurde veröffentlicht in der Anthologie "Mensch, wo schläfst Du?" anlässlich des Dt. Evangelischen Kirchentages in Bremen 2009, Book on demand, 2009.
Sie waren aus der Großstadt hierher gezogen: in dieses
Dreihundert-Seelen-Kaff. Jedes Mal, wenn hier das Kirchenglöckchen bimmelte,
wusste man, dass der liebe Gott wieder eine Seele zu sich in den Himmel gerufen
hatte. Das würde sie ihren Eltern nie verzeihen! Mit fünfzehn in diese gottverlassene
Gegend! Der letzte Bus fuhr um sechs und dann konntest du sehen, wie du wieder
nach Hause kamst. In der Stadt waren die Busse und Bahnen bis spät in die Nacht
gefahren. Und dann durfte sie sich noch nicht mal von Freunden nach Hause
bringen lassen und Trampen war auch tabu. Wenn ihr Vater sie dann wenigstens
abends abholen würde! Aber nein! Er habe auch ein Recht auf seinen Feierabend.
Und dazu gehöre bei ihm eben ein Glas Rotwein. Dann könne er selbstverständlich
aber nicht mehr fahren. Außerdem sei sie gerade mal fünfzehn. Wolle sie da etwa
schon die Nacht zum Tag machen? Sie sehe ihre Freunde doch jeden Tag in der
Schule. - In der Großstadt war das kein Problem gewesen. Da hatte sie sich noch
um sechs für drei Stationen in die Bahn gesetzt und war um Neun wieder zu Hause
gewesen.
...Hübsch gemacht, fein gemacht, rausgeputzt, aufgetakelt...
Und dann diese peinliche Nummer mit dem Haus! Sie konnte
sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal - außer Weihnachten natürlich,
da gehörte es irgendwie dazu - in der Kirche war. Und jetzt wohnten sie neben
dem Dorfpfarrer! Oder schimpfte der sich Pastor? - Auch egal. Der wohnte in der
anderen Doppelhaushälfte mit seiner Haushälterin. Auch krass, so ein Leben. Ob
es stimmte, dass die Pastoren was mit ihren Haushälterinnen hatten? Die beiden konnten froh sein, dass sie sich hatten. Auf
dem freien Markt hätten die keinen abbekommen. Im Garten Sonnen oben-ohne war
jetzt auch tabu. Allein die Vorstellung, dass der hinter der Gardine spannt,
ekelhaft!
Sie steht hinter der Gardine: schreiten, wandeln, neue Hüte,
heute ganz frivol mit Feder oder in frischem Lila, letzte Hoffnung, kess in die
Stirn gezogen oder doch eher ein wenig unauffällig.
Ein einziges Mal war sie von einem aus der 13 nach Hause
gebracht worden! Und schon wusste es das ganze Kaff. Hatten die eigentlich
nichts anderes zu tun als zu tratschen? Dabei lief da gar nichts. Aber als sie
am nächsten Nachmittag auf der Terrasse gelegen hatte, hatte diese Frau Wagner
von der anderen Seite einfach über den Zaun getutet: "Na, neuer
Freund?" Sie hatte einfach nicht reagiert, aber denkste, die Alte lässt nicht
locker. "War schon spät, nicht, aber wenn deine Eltern dir das
erlauben." "Schönen Tag noch, Frau Wagner", hatte sie gesagt und
ihren Terrassensonnenplatz geräumt. Noch nicht mal Sonnen in manierlichen
Shorts und Top war drin! Dieses ständige von wildfremden Menschen Ausgefragtwerden
- es kotzte sie an!
Clara beobachtet: Sie stelzen und stöckeln. Mit und ohne Hut
geht es sich gut. Neue teure Schuhe, die erstmalig eingelaufen werden, die
Absätze eindeutig zu hoch, aber für diese Strecke geht es gerade so. In den
älteren Sandälchen läuft es sich besser und mit der frisch aufgetragenen
Schuhwichse können sie sich wieder sehen lassen.
Allein schon dieses Platt, das die Eingeborenen hier
redeten. Das konnte doch keine Sau verstehen. Sie kam sich richtig blöde vor
mit ihrem Hochdeutsch. Aber sie konnte nur Hochdeutsch. Sie hatte ja bis vor Kurzem
nur in der Großstadt gelebt: Da hatte sie nachmittags einfach mal einen Bummel
machen können, und wenn es nur der DM-Markt war und ein Labello, den sie sich
kaufte! Und im Stadtpark hatte sie immer einen zum Quatschen getroffen. Wenn du
von hier aus mit dem Bus zum Bahnhof in den nächst größeren Ort fuhrst, dich
dann in die Bahn setztest und eine Ewigkeit unterwegs warst, kamst du nicht
etwa in Paris an, sondern in einem Städtchen, in dem es einen DM-Markt gab -
und einen Bahnhof.
Hinter der Gardine blickt die Jugendliche gebannt hinaus:
Sie tänzeln und posen, sie lächeln und scherzen. Der Wind spielt mit ihren
Röcken. Oh, là là! Ist die Länge nicht ein wenig zu gewagt, liebe Frau? Die
jüngste sind wir ja nun auch nicht mehr. Oder gilt, je teurer das Stöffchen,
desto kürzer das Röckchen? Die neue Frühjahrskollektion wird präsentiert - auf
dem Laufsteg.
Und diese ganze Dorfjugend, die immer nur in Rudeln
auftauchte: als Freiwillige Feuerwehr, als Junggesellenverein, als
Schützenverein, zum Ostereier Schießen und zum Wählen der Maikönigin. Dabei
ging es doch immer nur ums Saufen! Letztens hatte einer von denen im hoch besoffenen
Kopp seiner Freundin einen Maibaum gestellt und war dabei vom Dach gestürzt. In
der Großstadt gab es so was gar nicht. Bis jetzt hatte sie es deshalb auch
nicht vermisst. Aber wenn du hier in dieser gottverlassenen Gegend abgestempelt
bist und alles mitbekommst… na ja, mit denen hatte sie halt nichts am Hut.
Die, die nicht dazu gehört, verfolgt das Spektakel: Apropos
Hut, auch ohne war gut: Dauerwellen, frisch gelegt, hoch toupiert und fixiert -
mit kiloweise Haarspray drauf. Blonde Strähnen, und weil Frühling ist, die
Strähnen direkt mal ein bisschen breiter. Der Pony, der hat heute Morgen am
meisten Arbeit gemacht - steht ihr auch nicht schlecht, mal was Neues
ausprobiert.
Clara hatte auch Kommunion gefeiert - in der Großstadt,
normal halt. Aber auf dem Land- echt abgefahren. Da saß dann am Sonntagabend
der Pastor im Wohnzimmer und wollte und wollte nicht gehen! Wenn`s das denn
gewesen wäre: Ein Fliegenschiss im Vergleich zu Montag! 'Open House', wow, am
Arsch der Welt, aber very international! Das ganze Wohnzimmer voller Menschen,
mit denen sie sonst nichts zu tun hatten. Die ganze Straße, rauf und runter,
feierte die Kommunion ihres Bruders. Von wegen 'my home is my castle': Auf dem
Land nicht. Wenn du kein Außenseiter sein willst - und wer will das schon -,
dann musst du so`n Scheiß mitmachen. Mama war nach der Kommunion tagelang nicht
ansprechbar.
Und die Männer stehen vor der Kirche, im Kreis, rauchend,
die Haare frisch gewaschen und sofort wieder mit Pomade zugeklebt, die jungen
jedenfalls. Die alten tragen ihren Hut - und da läutet es auch schon, wird auch
Zeit. Sie treten die Kippe aus. Wer hebt die eigentlich wieder auf? Da haben
wir unsere Leute für!
Die Neue sieht zu: Keine Zeit mehr zum Schreiten und
Wandeln. Der Laufsteg, der Weg von Zuhause zur Kirche ist wieder mal länger als
eingeplant. Ohne Handtäschchen geht nichts: Das an den Kanten abgewetzte alte
Täschchen, der Griff in der Hand der Uralten, die mit ihrem Kopftuch aussieht,
als käme sie geradewegs vom Feld. Bei den Älteren schaukelt es am leicht
gebeugten Arm, die Farben auch heller.
Wie die Queen Mom sieht sie aus, die Frau vom Schreiner,
alteingesessen. Ja, ja, die stellt schon was dar, die gehört hier im Dorf zur
Hautevolee! In der Großstadt wär' sie keiner Sau aufgefallen, aber hier im
Dorf, da warst du wer - als Frau vom Metzger oder Schreiner oder Gattin des
Bürgermeisters! Komisch, es hieß nie 'Gattin des Metzgers', immer nur 'Gattin
des Zahnarztes' oder besser noch 'Zahnarztgattin'. Oder wurde die hier auf dem
platten Land womöglich noch mit 'Frau Doktor' angesprochen? Zuzutrauen wäre das
den Hinterwäldlern.
Das Glöckchen ruft, geschwind, geschwind! Platz nehmen heißt
es jetzt. Möglichst weit hinten, man will ja viel sehen. Nicht, was da vorne
abgeht, sondern in Ruhe die Frau Schmitz - ob die sich tatsächlich in ihrem
Alter schon die Haare färben muss - oder den Tony, der bekommt auch schon
langsam die Plät. Je weiter du in der Kirche vorne sitzt, desto mehr Kirchgänger
können über dich herziehen.
Früher waren sie sonntags doch auch nicht in die Kirche
gegangen. Warum waren ihre Eltern plötzlich so scharf drauf? Nur wegen der
anderen Leute? So eine Scheiße, selbst nicht gehen, aber die Tochter nerven.
Das zählte doch wohl mehr als tausend Gottesdienstbesuche: Das eine war ja,
dass sie sich das Haus mit dem Dorfpastor teilten, aber musste das Haus quasi
neben der Kirche stehen? Da bist du rund um die Uhr in Gottes Bann - und
bekommst alles mit - wie Kino, nur umsonst!
In der Kirche stört es dich nicht, wenn die Frau mit der
breitesten Hutkrempe vor dir sitzt. Du weißt ja eh, was vorne passiert, oder es
interessiert nicht. In das Handtäschchen muss ein Taschentüchlein passen und -
das Wichtigste - ein wenig Geld für den Klingelbeutel. Stell dir vor, du gehst
in die Kirche und hast kein Münzlein zur Hand. Das geht gar nicht. Da kannst du
dich gleich in die erste Reihe setzen und laut schnarchen.
Und die Männer treten erst ihre Kippe aus, wenn das
Glöckchen mahnt. Die Ehemänner, Vergewaltiger und Fremdgänger schleichen erst in
das Gotteshaus, wenn sich die Tür zur Sakristei öffnet und der Pastor erscheint.
Und sie werden danach die ersten sein, die vor der Kirche stehen - wieder mit
der Kippe in der Hand. Und zwischenzeitlich wird der ein oder andere ein kleines
Nickerchen gemacht haben - hinten, in der letzten und vorletzten Reihe, von
seinen Kumpels links und rechts gestützt. Darum wird sich da hinten so
gedrängelt. Du brauchst keine Angst zu haben, dass du schnarchst, die wecken
dich schon, die knuffen dich schon in die Seite. Außerdem schnarchst du im
Sitzen seltener. Der Schlaf des Gerechten ist auch bitter nötig: Gestern Abend
ist es im Schützenhaus spät geworden - und danach noch mal ordentlich die Frau
ran genommen.
Und dann, endlich, - sie haben es sich verdient - ziehen sie
zum Frühschoppen, ausgeruht, wieder bei neuen Kräften, und ihre Frauen gehen
nach Hause - ein bisschen in Eile wegen des
sonntäglichen Mittagessens.
Und die Tochter, deren Eltern mit ihr und ihrem Bruder
hierhin aufs Land gezogen sind, lauert wieder am Küchenfenster - den Eingang
der Kirche im Visier. Da kam ja auch Anne aus der Kirche. Ach ja, die ging
manchmal in die Kirche, ihrer Oma zuliebe. Danach gab `s dann ordentlich
Sonntagsgeld. Das wäre vielleicht ein Deal!
Es ist kurz vor eins. Clara räumt gerade die Spülmaschine
ein und schaut zufällig aus dem Fenster: Der kleine Mark läuft im
Stechschritt vorbei - Richtung Kneipe -
seinen Vater holen- wenn er Glück hat, kann der sich noch alleine auf den
Beinen halten.