Samstag, 15. Juni 2024

Kurzgeschichte "Zug der Hüte"

Diese Kurzgeschichte wurde veröffentlicht in der Anthologie "Mensch, wo schläfst Du?" anlässlich des Dt. Evangelischen Kirchentages in Bremen 2009, Book on demand, 2009.

Sie waren aus der Großstadt hierher gezogen: in dieses Dreihundert-Seelen-Kaff. Jedes Mal, wenn hier das Kirchenglöckchen bimmelte, wusste man, dass der liebe Gott wieder eine Seele zu sich in den Himmel gerufen hatte. Das würde sie ihren Eltern nie verzeihen! Mit fünfzehn in diese gottverlassene Gegend! Der letzte Bus fuhr um sechs und dann konntest du sehen, wie du wieder nach Hause kamst. In der Stadt waren die Busse und Bahnen bis spät in die Nacht gefahren. Und dann durfte sie sich noch nicht mal von Freunden nach Hause bringen lassen und Trampen war auch tabu. Wenn ihr Vater sie dann wenigstens abends abholen würde! Aber nein! Er habe auch ein Recht auf seinen Feierabend. Und dazu gehöre bei ihm eben ein Glas Rotwein. Dann könne er selbstverständlich aber nicht mehr fahren. Außerdem sei sie gerade mal fünfzehn. Wolle sie da etwa schon die Nacht zum Tag machen? Sie sehe ihre Freunde doch jeden Tag in der Schule. - In der Großstadt war das kein Problem gewesen. Da hatte sie sich noch um sechs für drei Stationen in die Bahn gesetzt und war um Neun wieder zu Hause gewesen.

...Hübsch gemacht, fein gemacht, rausgeputzt, aufgetakelt...

Und dann diese peinliche Nummer mit dem Haus! Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal - außer Weihnachten natürlich, da gehörte es irgendwie dazu - in der Kirche war. Und jetzt wohnten sie neben dem Dorfpfarrer! Oder schimpfte der sich Pastor? - Auch egal. Der wohnte in der anderen Doppelhaushälfte mit seiner Haushälterin. Auch krass, so ein Leben. Ob es stimmte, dass die Pastoren was mit ihren Haushälterinnen hatten? Die beiden  konnten froh sein, dass sie sich hatten. Auf dem freien Markt hätten die keinen abbekommen. Im Garten Sonnen oben-ohne war jetzt auch tabu. Allein die Vorstellung, dass der hinter der Gardine spannt, ekelhaft!

Sie steht hinter der Gardine: schreiten, wandeln, neue Hüte, heute ganz frivol mit Feder oder in frischem Lila, letzte Hoffnung, kess in die Stirn gezogen oder doch eher ein wenig unauffällig.

Ein einziges Mal war sie von einem aus der 13 nach Hause gebracht worden! Und schon wusste es das ganze Kaff. Hatten die eigentlich nichts anderes zu tun als zu tratschen? Dabei lief da gar nichts. Aber als sie am nächsten Nachmittag auf der Terrasse gelegen hatte, hatte diese Frau Wagner von der anderen Seite einfach über den Zaun getutet: "Na, neuer Freund?" Sie hatte einfach nicht reagiert, aber denkste, die Alte lässt nicht locker. "War schon spät, nicht, aber wenn deine Eltern dir das erlauben." "Schönen Tag noch, Frau Wagner", hatte sie gesagt und ihren Terrassensonnenplatz geräumt. Noch nicht mal Sonnen in manierlichen Shorts und Top war drin! Dieses ständige von wildfremden Menschen Ausgefragtwerden - es kotzte sie an!

Clara beobachtet: Sie stelzen und stöckeln. Mit und ohne Hut geht es sich gut. Neue teure Schuhe, die erstmalig eingelaufen werden, die Absätze eindeutig zu hoch, aber für diese Strecke geht es gerade so. In den älteren Sandälchen läuft es sich besser und mit der frisch aufgetragenen Schuhwichse können sie sich wieder sehen lassen.

Allein schon dieses Platt, das die Eingeborenen hier redeten. Das konnte doch keine Sau verstehen. Sie kam sich richtig blöde vor mit ihrem Hochdeutsch. Aber sie konnte nur Hochdeutsch. Sie hatte ja bis vor Kurzem nur in der Großstadt gelebt: Da hatte sie nachmittags einfach mal einen Bummel machen können, und wenn es nur der DM-Markt war und ein Labello, den sie sich kaufte! Und im Stadtpark hatte sie immer einen zum Quatschen getroffen. Wenn du von hier aus mit dem Bus zum Bahnhof in den nächst größeren Ort fuhrst, dich dann in die Bahn setztest und eine Ewigkeit unterwegs warst, kamst du nicht etwa in Paris an, sondern in einem Städtchen, in dem es einen DM-Markt gab - und einen Bahnhof.

Hinter der Gardine blickt die Jugendliche gebannt hinaus: Sie tänzeln und posen, sie lächeln und scherzen. Der Wind spielt mit ihren Röcken. Oh, là là! Ist die Länge nicht ein wenig zu gewagt, liebe Frau? Die jüngste sind wir ja nun auch nicht mehr. Oder gilt, je teurer das Stöffchen, desto kürzer das Röckchen? Die neue Frühjahrskollektion wird präsentiert - auf dem Laufsteg.

Und diese ganze Dorfjugend, die immer nur in Rudeln auftauchte: als Freiwillige Feuerwehr, als Junggesellenverein, als Schützenverein, zum Ostereier Schießen und zum Wählen der Maikönigin. Dabei ging es doch immer nur ums Saufen! Letztens hatte einer von denen im hoch besoffenen Kopp seiner Freundin einen Maibaum gestellt und war dabei vom Dach gestürzt. In der Großstadt gab es so was gar nicht. Bis jetzt hatte sie es deshalb auch nicht vermisst. Aber wenn du hier in dieser gottverlassenen Gegend abgestempelt bist und alles mitbekommst… na ja, mit denen hatte sie halt nichts am Hut.

Die, die nicht dazu gehört, verfolgt das Spektakel: Apropos Hut, auch ohne war gut: Dauerwellen, frisch gelegt, hoch toupiert und fixiert - mit kiloweise Haarspray drauf. Blonde Strähnen, und weil Frühling ist, die Strähnen direkt mal ein bisschen breiter. Der Pony, der hat heute Morgen am meisten Arbeit gemacht - steht ihr auch nicht schlecht, mal was Neues ausprobiert.

Clara hatte auch Kommunion gefeiert - in der Großstadt, normal halt. Aber auf dem Land- echt abgefahren. Da saß dann am Sonntagabend der Pastor im Wohnzimmer und wollte und wollte nicht gehen! Wenn`s das denn gewesen wäre: Ein Fliegenschiss im Vergleich zu Montag! 'Open House', wow, am Arsch der Welt, aber very international! Das ganze Wohnzimmer voller Menschen, mit denen sie sonst nichts zu tun hatten. Die ganze Straße, rauf und runter, feierte die Kommunion ihres Bruders. Von wegen 'my home is my castle': Auf dem Land nicht. Wenn du kein Außenseiter sein willst - und wer will das schon -, dann musst du so`n Scheiß mitmachen. Mama war nach der Kommunion tagelang nicht ansprechbar.

Und die Männer stehen vor der Kirche, im Kreis, rauchend, die Haare frisch gewaschen und sofort wieder mit Pomade zugeklebt, die jungen jedenfalls. Die alten tragen ihren Hut - und da läutet es auch schon, wird auch Zeit. Sie treten die Kippe aus. Wer hebt die eigentlich wieder auf? Da haben wir unsere Leute für!

Die Neue sieht zu: Keine Zeit mehr zum Schreiten und Wandeln. Der Laufsteg, der Weg von Zuhause zur Kirche ist wieder mal länger als eingeplant. Ohne Handtäschchen geht nichts: Das an den Kanten abgewetzte alte Täschchen, der Griff in der Hand der Uralten, die mit ihrem Kopftuch aussieht, als käme sie geradewegs vom Feld. Bei den Älteren schaukelt es am leicht gebeugten Arm, die Farben auch heller.

Wie die Queen Mom sieht sie aus, die Frau vom Schreiner, alteingesessen. Ja, ja, die stellt schon was dar, die gehört hier im Dorf zur Hautevolee! In der Großstadt wär' sie keiner Sau aufgefallen, aber hier im Dorf, da warst du wer - als Frau vom Metzger oder Schreiner oder Gattin des Bürgermeisters! Komisch, es hieß nie 'Gattin des Metzgers', immer nur 'Gattin des Zahnarztes' oder besser noch 'Zahnarztgattin'. Oder wurde die hier auf dem platten Land womöglich noch mit 'Frau Doktor' angesprochen? Zuzutrauen wäre das den Hinterwäldlern.

Das Glöckchen ruft, geschwind, geschwind! Platz nehmen heißt es jetzt. Möglichst weit hinten, man will ja viel sehen. Nicht, was da vorne abgeht, sondern in Ruhe die Frau Schmitz - ob die sich tatsächlich in ihrem Alter schon die Haare färben muss - oder den Tony, der bekommt auch schon langsam die Plät. Je weiter du in der Kirche vorne sitzt, desto mehr Kirch­gänger können über dich herziehen.

Früher waren sie sonntags doch auch nicht in die Kirche gegangen. Warum waren ihre Eltern plötzlich so scharf drauf? Nur wegen der anderen Leute? So eine Scheiße, selbst nicht gehen, aber die Tochter nerven. Das zählte doch wohl mehr als tausend Gottesdienstbesuche: Das eine war ja, dass sie sich das Haus mit dem Dorfpastor teilten, aber musste das Haus quasi neben der Kirche stehen? Da bist du rund um die Uhr in Gottes Bann - und bekommst alles mit - wie Kino, nur umsonst!

In der Kirche stört es dich nicht, wenn die Frau mit der breitesten Hutkrempe vor dir sitzt. Du weißt ja eh, was vorne passiert, oder es interessiert nicht. In das Handtäschchen muss ein Taschentüchlein passen und - das Wichtigste - ein wenig Geld für den Klingelbeutel. Stell dir vor, du gehst in die Kirche und hast kein Münzlein zur Hand. Das geht gar nicht. Da kannst du dich gleich in die erste Reihe setzen und laut schnarchen.

Und die Männer treten erst ihre Kippe aus, wenn das Glöckchen mahnt. Die Ehemänner, Vergewaltiger und Fremdgänger schleichen erst in das Gotteshaus, wenn sich die Tür zur Sakristei öffnet und der Pastor erscheint. Und sie werden danach die ersten sein, die vor der Kirche stehen - wieder mit der Kippe in der Hand. Und zwischenzeitlich wird der ein oder andere ein kleines Nickerchen gemacht haben - hinten, in der letzten und vorletzten Reihe, von seinen Kumpels links und rechts gestützt. Darum wird sich da hinten so gedrängelt. Du brauchst keine Angst zu haben, dass du schnarchst, die wecken dich schon, die knuffen dich schon in die Seite. Außerdem schnarchst du im Sitzen seltener. Der Schlaf des Gerechten ist auch bitter nötig: Gestern Abend ist es im Schützenhaus spät geworden - und danach noch mal ordentlich die Frau ran genommen.

Und dann, endlich, - sie haben es sich verdient - ziehen sie zum Frühschoppen, ausgeruht, wieder bei neuen Kräften, und ihre Frauen gehen nach Hause - ein bisschen in Eile wegen des sonntäglichen Mittagessens.

Und die Tochter, deren Eltern mit ihr und ihrem Bruder hierhin aufs Land gezogen sind, lauert wieder am Küchenfenster - den Eingang der Kirche im Visier. Da kam ja auch Anne aus der Kirche. Ach ja, die ging manchmal in die Kirche, ihrer Oma zuliebe. Danach gab `s dann ordentlich Sonntagsgeld. Das wäre vielleicht ein Deal!

Es ist kurz vor eins. Clara räumt gerade die Spülmaschine ein und schaut zufällig aus dem Fenster: Der kleine Mark läuft im Stechschritt  vorbei - Richtung Kneipe - seinen Vater holen- wenn er Glück hat, kann der sich noch alleine auf den Beinen halten.