Samstag, 10. Dezember 2016

Wie verabschiede ich meinen Ehemann?

Ja, auch ich habe andere Tage erlebt: Mein Mann und meine Kinder haben mich geliebt, ich hatte ganz liebe Freunde, die für mich durch dick und dünn gegangen wären, mein Bekanntenkreis war groß und das Verhältnis zu den Nachbarn war so was von entspannt und angenehm.
Aber das war einmal. Ich mein, ich halte es nach wie vor für stark überreagiert. Damals fand ich es schon vollkommen übertrieben, dass meine beste Freundin von jetzt auf gleich mit mir nichts mehr zu tun haben wollte, nur weil ich ihren Mann geküsste hatte (ja, Zungenkuss, stimmt, sollte halt möglichst echt aussehen). Wenn es die Straßenverkehrsordnung nun mal einfordert!
Und dass meine Tochter seit Monaten mit mir kein Wort ... Gut, sie hatte mich gebeten, sie mit dem Auto nach Siegburg zum Zug zu bringen. Den hat sie verpasst, deshalb den Flieger von Frankfurt ebenso - und den Indientrip in Gänze. Und das nur, weil ich sie nicht habe aussteigen lassen. Aber so bin ich halt,  ich und mein Unrechtsbewusstsein.  
Ja, und mein Nachbar redet auch nicht mehr mit mir, nimmt vom DHL-Mann keine Pakete für mich mehr an. Gut, ich kann jetzt seine Sichtweise auch ein Stück weit verstehen. Vor ein paar Wochen klingelte er an meiner Tür, schmerzverzerrtes Gesicht, höllische Bauchschmerzen, ob ich ihn, seine  Frau habe das Auto, zum Arzt, kein Thema. Ich habe mich ins Auto geschmissen und - habe aber vor der Arztpraxis nicht angehalten, um ihn rauszulassen. Okay, knappe drei Kilometer von der Arztpraxis entfernt, da hätte er auch gleich zu Fuß von zuhause gehen können.
Früher hätte ich ihn einfach vor der Arztpraxis aussteigen lassen. Aber jetzt hatte ich in der Einfahrt zu Knauber dieses Verkehrsschild gesehen und das hab ich dann im Hinterkopf, wie eingebrannt. Früher wusste ich es eben nicht besser.

Ich mein, ich hab' schon gemerkt, dass es um mich herum immer ruhiger wurde und mir plötzlich viel Zeit, sehr viel Zeit für Pediküre (im Winter, wo es sowieso keiner Sau auffällt) und Maniküre zur Verfügung stand. Aber seit ich dieses Verkehrsschild "Kiss and ride" wahrgenommen hatte, ich hab da früher nie so drauf geachtet. Irgendwann war der Leidensdruck so was von groß - ich hab dann gegoogelt. Bei Wikipedia stand dann Folgendes (und da wusste ich auch, warum ich für die immer spende, für die Damen und Herren von Wikipedia):

Der Begriff Kiss and ride beschreibt ein Verknüpfungsprinzip in der Verkehrsplanung. Dabei werden die Fahrgäste des öffentlichen Personennahverkehrs mit dem Auto zu einem Verknüpfungspunkt (in der Regel ein Bahnhof oder eine Haltestelle) gebracht oder von dort abgeholt. Im Gegensatz zum Park-and-ride-Prinzip wird das Fahrzeug am Verknüpfungspunkt jedoch nicht dauerhaft abgestellt.

Ziel dieses weltweit angewandten Prinzips ist die Steigerung der Akzeptanz des öffentlichen Personennahverkehrsangebotes, da ein bequemes Ein- und Aussteigen in der Nähe des Verknüpfungspunktes ermöglicht wird und zudem die Parkplatzsuche entfällt.

Inhaltsverzeichnis
1          Entstehung
2          Bedingungen
3          Kritik

Entstehung
Bei dem Begriff „Kiss and ride“ (auch Kiss und Ride oder K+R bzw. K&R, wörtlich aus dem Englischen „Küssen und mitfahren“) handelt es sich um eine Wortneuschöpfung, die erstmals 1956 in der Los Angeles Times Erwähnung fand:

„I believe we are going to have co-ordination between automobiles and rapid transit. It will be park and ride or kiss and ride — where the wife takes the husband to the rapid transit line and kisses him good-by.“

„Ich glaube es wird eine Verbindung zwischen Auto und Bahn geben. Es wird Park and ride oder Kiss and ride sein – wo die Frau den Mann zur Bahnstrecke bringt und ihn zum Abschied küsst.“

– Los Angeles Times, Artikel Transit Plan Agreement Smoked Out, 20. Januar 1956
In Deutschland konnte Kiss and ride etwa 10 Jahre später (z.T. noch als Konzept) Fuß fassen.

Bedingungen
Für Reisende ist Kiss and ride interessant, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

Der Reisende hat keine Fahrerlaubnis oder ist nicht in der Lage ein Fahrzeug zu steuern (beispielsweise aus Alters- oder Gesundheitsgründen).
Während der Reise soll das Fahrzeug nicht am Verknüpfungspunkt verbleiben, weil es anderweitig benötigt wird (beispielsweise vom Partner oder dem Arbeitskollegen).
Kostengründe oder Sicherheitsbedenken (Vandalismus bzw. Diebstahl) sprechen gegen ein längeres Abstellen des Fahrzeugs am Verknüpfungspunkt.
Der Reisende hat am Zielort kein Fahrzeug zur Verfügung oder will aus Kosten- oder Bequemlichkeitsgründen nicht auf Taxi oder öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen.

Kritik
Es hat sich gezeigt, dass der Begriff insbesondere in nicht Englisch sprechenden Ländern kaum allgemeinverständlich ist und eher sogar Missverständnisse erzeugt. So sollen beispielsweise einem Bericht des österreichischen Onlinemagazins kath.net zufolge „nicht ÖBB-sprachkundige Personen“ im Jahr 2011 einen Wegweiser zu einem Kiss-and-ride-Parkplatz in Wien als Hinweis auf Prostitution verstanden haben. Das Missverständnis sei erst durch eine Auskunft der Österreichischen Bundesbahnen behoben worden.

Um diesem Problem zu begegnen, haben sich mehrere Kommunen und Verkehrsunternehmen dazu entschlossen, die Bezeichnung „Kiss and ride“ nicht mehr zu verwenden und stattdessen alternative Bezeichnungen, wie etwa „Kurzzeitparken“ oder „Abwurfzone“ zu verwenden. So hat beispielsweise auch die Deutsche Bahn AG im Februar 2010 angekündigt, dass sie auf Anglizismen wie „Kiss and ride“ zukünftig verzichten wolle.

Was für eine Quelle der Inspiration. Ich fasse zusammen: Ich habe jahrzehntelang meine Lieben zum Zug gebracht - wahlweise auch wieder abgeholt - und damit dem Verknüpfungsprinzip in der Verkehrsplanung  quasi Leben eingehaucht, ohne es zu wissen!
Früher ging ich davon aus, dass ich mein Kind zum Zug bringe und anschließend wieder alleine nach Hause fahre. Heute weiß ich es besser. Ich habe einen Fahrgast des öffentlichen Personennahverkehrs mit dem Auto zu einem Verknüpfungspunkt gebracht, und habe anschließend das Fahrzeug, also meins, am Verknüpfungspunkt nicht dauerhaft abgestellt (warum auch, ich hätte ja dann zu Fuß nach Hause gehen müssen). Und, ohne es zu wissen, habe ich dabei mitgewirkt, und zwar global, die Akzeptanz des öffentlichen Personennahverkehrsangebotes zu steigern, indem ich ein bequemes Ein- und Aussteigen in der Nähe des Verknüpfungspunktes ermöglicht habe.    
Und dass ich das wieder den Amerikanern zu verdanken habe, dass die mich da mit ins Boot - also hier jetzt konkret ins Auto - genommen haben. Ich würde heute noch vollkommen zieldesorientiert meine Kinder zur Bahn bringen, um ihnen einfach das Leben zu erleichtern, statt globale Verantwortung für ein weltweit anerkanntes Prinzip zu übernehmen. Wo stünde (führe) ich nur ohne die Amerikaner?
Der Punkt "Bedingungen" - ganz wichtig für mich in dem Zusammenhang! Ich hätt jetzt vermutet, Bedingung ist, dass ich Zeit und Lust habe, mein Kind zur Bahn zu bringen. Wie ich lese, vollkommen daneben! Aber kann ich trotzdem unterschreiben, Wort für Wort!


Was jetzt die Ausführungen zu Punkt "Kritik" betrifft, nun ja, schätze mal, dass sich mein Traummann in Kürze von mir trennen wird. Weil, durch die Lektüre des Wikipedia-Artikels, also da hat mich das Wort ... Nicht die Geschichte, ob man nach jahrzehntelanger Ehe die Hand für den Göttergatten ins Feuer legt, dass der noch nie ... Aber "Abwurfzone", tolles Wort! Wenn da nicht der Deutsche Verkehrsicherheitsrat seine Hände im Spiel hat. Das klingt so was von nach Experten. "Abwurfzone", dieses Wort muss sich in mein Unterbewusstsein irgendwie hineingefräst haben. Anders kann ich mir das nicht erklären. Ich mein, da muss man ja erst mal drauf kommen. Den Göttergatten einfach während der Fahrt - gut, ich hatte schon verlangsamt - an der Fernbushaltestelle aus dem Auto zu schubsen.